Blaue Mütze, Lortzingstraße 6 in Leipzig


Leipzig 1989


Einen Wohnungsmarkt, der Angebot und Nachfrage regelte, gab es in der DDR nicht. Wohnungen wurden ausschließlich vom Staat zugewiesen, und die Wartezeiten betrugen oft mehrere Jahre. Für junge Familien war es nahezu unmöglich, auf legalem Weg halbwegs bewohnbaren Wohnraum zu finden.

Im Herbst 1984 zog ich daher ungefragt in eine leerstehende Wohnung in der Lortzingstraße 6 ein. Angesichts des organisierten Mangels in der DDR nahm ich gemeinsam mit einigen Freunden im Frühjahr 1989 die Initiative in die Hand und startete das Projekt „Blaue Mütze“ in der Lortzingstraße. Finanzielle Mittel standen uns keine zur Verfügung. Stattdessen investierten wir 4.800 Stunden freiwillige Arbeit in die Sanierung des Gründerzeithauses „Blaue Mütze“.

Vor Beginn der Sanierungsmaßnahmen wurde das Gebäude durch ein Holzschutzgutachten eingehend geprüft. Ein Sachverständiger beurteilte dabei die gesamte Holzkonstruktion sowie alle erkannten Schäden an den Holzbauteilen.

pdf [Holzschutzgutachten als PDF]

Blick vom Dach »Blaue Mütze« 1988, Foto: Jens Scholz

Vor dem Hintergrund der seinerzeit notwendigen Sanierungsmaßnahmen in Eigeninitiative, reagierte die Stadtverwaltung Leipzig noch am 8. November 1989 mit einer Ordnungsstrafverfügung und wandelte eine Geldstrafe in Höhe von 1.500,00 Mark in einen Verweis.

pdf [Ordnungsstrafverfügung als PDF]

Klartext - Ist Leipzig noch zu retten?

Anfang November '89 ereignete sich im DDR-Fernsehen bis dahin Unmögliches. In der Reportage der Sendung »Klartext« wurde die DDR gezeigt, wie sie wirklich war – am Beispiel der zweitgrößten Stadt der Republik, Leipzig. Auf dem Sendeplatz des abgesetzten »Schwarzen Kanals« lief am 6. November 1989 erstmals die Reportagereihe »Klartext«. In der ersten Folge wurde der Film »Ist Leipzig noch zu retten?« gezeigt, der sich mit dem katastrophalen Zustand der Leipziger Altbausubstanz auseinandersetzte. Die Dokumentation greift unter anderem auch das Projekt »Blaue Mütze« Lortzingstr. 6 in Leipzig auf. Die Reportage rüttelte nicht nur in Leipzig wach. In einem ersten Schritt zogen die Stadtverordneten die Kompetenz für das Bauwesen in der Messestadt komplett an sich. Berlin hatte nichts mehr zu sagen. Minister Junker gab klein bei. 36 Stunden nach Ausstrahlung der Sendung wurde außerdem in Berlin mitgeteilt, dass alle Bauarbeiter, die in die Hauptstadt delegiert worden waren, zurück in ihre Heimatorte sollten. Aus dem Bezirk Leipzig waren das allein 750 Baufachkräfte. Der kritische Bericht über Leipzig ermunterte auch andere Fernseh- und Rundfunkreporter, die Realität in der DDR fortan ungeschminkt darzustellen.

Doku Klartext - Ist Leipzig noch zu retten?, Produktionsjahr: 1989, Regie: Gerlinde Marquardt, Quelle: DDR TV-Archiv.
Bei Interesse sende ich Ihnen gern einen Link zum Video.


Leipzig 2014

Im Rückblick: Die Filmmatinee »Ist Leipzig noch zu retten«

Am Sonntag, 28.9.2014 um 11 Uhr lud die Stiftung »Bürger für Leipzig« gemeinsam mit der Leipziger Denkmalstiftung in die Kinobar Prager Frühling zur Matinee und Diskussion ein: »Ist Leipzig noch zu retten?« Es wurden Ausschnitte des Films gezeigt.Im Anschluss diskutierte Elke Urban (Leiterin des Schulmuseums) mit dem Architekten Bernd Sikora und dem Kunsthistoriker Prof. Dr. Thomas Topfstedt. Moderiert hat Prof. Dr. Michael Hofmann die Diskussion zu Fragen wie: Konnte Leipzig gerettet werden? Wer hat warum und wie welche Weichen gestellt? Und wie beurteilen wir aus heutiger Sicht die Entwicklung der Stadt? Fazit: Ein neuer Film wäre gut. Titel: Sind die Leipziger noch zu retten?



»Blaue Mütze« 2014, Foto: Martin Geißler, [GNU-Lizenz für freie Dokumentation]


Wie das Haus zu seinem Namen »Blaue Mütze« kam?

Über die Namensgebung des Hauses gibt es unterschiedliche Erzählperspektiven. Ich habe im Laufe der Jahre die mir bekannt gewordenen Geschichte oder besser Fragmente aus lokalen Veröffentlichungen gesammelt und in einer PDF-Datei zusammengestellt.

pdf [Wie ein Haus zu seinem Namen kam]


Die Maske mit blauer Zipfelmütze über dem Eingang

An Hand meiner Erinnerung kann ich viele Details noch nachvollziehen, welche ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Zum Beispiel haben die Hausbewohner der Blauen Mütze um 1990 ein gemeinsames Hausfest organisiert. Unter ihnen waren auch der Kabarettist Mike Hoffmann (Meigl Hoffmann), dessen damalige Spielstätte das Kabarett Gohglmohsch war. Während des Hausfestes kam uns die alberne Idee, die Zipfelmütze blau anzustreichen. Das führte dazu, dass ich blauen Reparaturlack von meinem damaligen Trabi besorgte und Meigl Hoffmann die Mütze kurzer Hand blau angestrichen hat. [Lesen Sie hier, was Migl Hoffmann dazu sagt.]

Die Liste der Kulturdenkmale vom Landesamt für Denkmalpflege Sachsen enthält heute auch die »Blaue Mütze« als Kulturdenkmal im Stadtteil Leipzig-Nordwest.
[Wikipedia – Liste der Kulturdenkmale in Leipzig-Zentrum-Nordwest]

Links zu Aufnahmen die den Zustand der Stadt Leipzig um 1990 beschreiben:
[Leipzig im Sommer 1992 Teil 1]       [Leipzig im Sommer 1992 Teil 2]       [Leipzig nach 40 Jahren DDR]